Faktencheck Weizen - Macht das Getreide wirklich dick, dumm und träge?

Gerade ist die Weizenernte in Deutschland in vollem Gange. Im Durchschnitt werden jährlich 24 Millionen Tonnen des wertvollen Getreides vom Feld geholt. Mit seinen guten Böden ist Deutschland ein wichtiges Weizenanbaugebiet, mit hervorragenden Qualitäten und guten Erträgen. Ein knappes Drittel der Ernte wird gebraucht, um die heimischen Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen – der Selbstversorgungsgrad mit Weizen liegt bei durchschnittlich 130 Prozent. Ein gutes Drittel dient als Tierfutter, das letzte Drittel geht zu Teilen in den Export, die Stärkeproduktion, dient als Saatgut für das nächste Jahr, zur Energiegewinnung und als Vorrat. Weizen ist mit 765 Millionen Tonnen nach Mais mit 1.150 Millionen Tonnen und noch vor Reis mit 755 Millionen Tonnen die zweitwichtigste Getreideart für die Versorgung der Weltbevölkerung. Seine ernährungsphysiologische Zusammensetzung ist verglichen mit Mais und Reis zudem besonders günstig: hoher Ballaststoffanteil, gute Eiweißquelle, essentielle B-Vitamine und Mineralstoffe wie Eisen, Zink und Calcium. Dazu lässt sich Weizen besonders gut verarbeiten. Und doch kursieren über Weizen wie über kein anderes Getreide viele Vorurteile und Mythen. Mit Schuld daran sind seit Jahren einige pseudowissenschaftliche Veröffentlichungen – deren Thesen zwar längst widerlegt sind, aber trotzdem weiter verbreitet werden. Zeit also, die wichtigsten einem Faktencheck zu unterziehen.

These: Weizen verursacht Völlegefühl, Verdauungsproblemen und Trägheit

„Weil ein Großteil der Menschen das im Weizen enthaltene Gluten (Klebereiweiß) nicht verdauen kann, führt dies zu Völlegefühl, Verdauungsproblemen und Trägheit.“

Fakten:

Ein Großteil der Menschen in Deutschland – nämlich  90 bis 95 Prozent – haben keinerlei Probleme mit Weizen oder Gluten.

Die restlichen 5 bis 10 Prozent leiden an mit Weizen bzw. mit Gluten assoziierten Krankheiten wie Zöliakie (etwa 1 Prozent), Weizenallergie (0,5 Prozent) oder Nicht-Zöliakie/Nicht-Weizenallergie-Gluten-/Weizensensitivität, kurz NCGS (0,6 bis 6 Prozent) https://www.mein-mehl.de/ernaehrung/allergien-unvertraeglichkeiten/. Bei ihnen führt Weizen zu allergischen oder Autoimmunreaktionen. Sie müssen in der Tat auf Weizen bzw. Gluten verzichten.

Wenn das Gluten nicht verdaut werden könnte, warum wird das nicht auch für andere glutenhaltige Weizenarten wie Dinkel, Emmer, Einkorn oder andere Getreidearten, wie Roggen berichtet?

Gluten ist ein Speicherprotein von Getreidepflanzen. Es besteht aus der Glutenin- und der Gliadin-Fraktion. Es wird, wie andere Eiweiße auch, im menschlichen Verdauungstrakt in seine Einzelbestandteile, die Aminosäuren zerlegt. Die Eiweißaufspaltung findet bereits im Magen durch Magensäure und dem Enzym Pepsin statt. Hier werden die langen Eiweißketten zum Teil in kürzere „Ketten“ zerlegt, sogenannte Peptide. Dabei ist das Enzym Pepsin so etwas wie ein Generalist der Eiweißverdauung, denn es spaltet alle Eiweiße – bis auf Keratin (kommt etwa in Federn oder Haaren vor) und Myosin (sogenanntes Motorprotein z.B. in Muskelfasern). Im Dünndarm geht die Eiweißverdauung mit weiteren Enzymen weiter. Die dabei entstandenen Aminosäuren werden über die Darmschleimhaut ins Blut aufgenommen und in die Leber und Körperzellen transportiert. Dort wird aus den Aminosäuren neues Protein aufgebaut.

Es gibt keine Hinweise, dass stoffwechselgesunde Menschen Gluten nicht verdauen können. Im Gegenteil: Die Eiweißverwertung des Menschen ist sehr effektiv, auch weil unsere Vorfahren sicherlich nicht wählerisch sein konnten.

These: moderner Weizen ist überzüchtet

„Moderner Weizen enthält wesentlich mehr Gluten als Urweizensorten. Moderner Weizen enthält neuartige Proteine. Diese Menge an Gluten bzw. die neuartigen Proteine können nicht verarbeitet werden und führen zu Allergien und Unverträglichkeiten.“

Fakten:

Fraglich ist dabei schon mal, was als moderner Weizen und im Umkehrschluss als nicht moderner Weizen zu definieren ist. Seit Jahrhunderten wird Weizen durch Auslese weiterentwickelt. Pflanzenzüchtung kann keine neuartigen Proteine schaffen, sie arbeitet mit dem genetisch vorhandenen Material in der Pflanze. Es gibt im kommerziellen Weizenanbau auch keine gentechnisch veränderte Sorte, ergo auch keine neuartigen Proteine im Weizen.

Um herauszufinden, wie groß die Unterschiede im Glutengehalt zwischen alten und neuen Weizensorten/-züchtungen wirklich sind, untersuchte das Team um Katharina Scherf am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie den Eiweißgehalt von 60 bevorzugten Weizensorten aus der Zeit zwischen 1891 und 2010. Wie Analysen des Wissenschaftlerteams zeigen, enthalten moderne Weizensorten insgesamt etwas weniger Eiweiß als alte. Der Glutengehalt blieb dagegen über die letzten 120 Jahre konstant, wobei sich die Zusammensetzung des Glutens jedoch leicht veränderte. Während der Anteil des möglicherweise Unverträglichkeiten auslösenden Gliadins um rund 18 Prozent sank, stieg im Verhältnis der Gehalt der für die Backfähigkeit verantwortlichen Glutenine um etwa 25 Prozent an. Es sei darüber hinaus angemerkt, dass die Menge an Gluten für Menschen, die an Zöliakie leiden, keine maßgebliche Rolle spielt, vielmehr können bei ihnen bereits kleinste Mengen  Beschwerden auslösen. Bei der Weizenallergie sind andere Proteine maßgeblich und bei der „Sensitivität“ ist ein Zusammenhang noch nicht ausreichend erforscht, um die oben genannte Hypothese zu stützen.

Mehr Infos:

https://www.mein-mehl.de/ernaehrung/allergien-unvertraeglichkeiten/

https://www.bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2021/juni/plaedoyer-fuer-modernen-weizen/

These: Weizen macht dick & süchtig

Die oben genannte „Doppeltthese“ geht zurück auf Behauptungen von William Davis in seinem Buch „Weizenwampe“. Die Eiweiße von Weizen würden in bestimmte Peptide (Aminosäureketten) zerlegt, die Opioid-Rezeptoren im menschlichen Gehirn interagieren, um die Resorption der Lebensmittel zu verändern und den Appetit anzuregen. Er behauptet, dass die opiatähnlichen Substanzen im Weizen, wie jede andere süchtigmachende Substanz, Entzugserscheinungen hervorrufe, wenn man ihn nicht mehr verzehre.

Fakten:

Zu viele Kalorien, egal woher sie stammen, machen dick, nicht ein einziges Lebensmittel. Professor Julie Jones, die die Thesen von Davis wissenschaftlich geprüft hat, schreibt in ihrer kritischen Analyse dazu folgendes:

„Bei jeder Diät sind häufig kurzfristige, schnelle Gewichtsverluste zu beobachten. In Studien und Erfahrungsberichten werden dramatische Gewichtsabnahmen dokumentiert, insbesondere, wenn im Rahmen der Diät weniger Kohlenhydrate verzehrt werden.  Die Empfehlung, auf Weizen zu verzichten, ebenso wie die anderen Ratschläge in diesem Buch zeigen, dass „Wheat Belly“ ein kohlenhydratarmes Diätkonzept ist. Es ist zwar richtig, dass mit solchen Diätkonzepten in den ersten sechs Monaten im Vergleich zu anderen Diäten ein schnellerer Gewichtsverlust realisiert werden kann, langfristig hingegen ist die Gewichtsabnahme jedoch nicht höher und es gibt mehr Abbrecher als bei anderen Diätkonzepten, die auf mehr Ausgewogenheit setzen und nicht eine Gruppe von Lebensmitteln grundsätzlich ausschließen.“ …

„Die Kontrolle des Essverhaltens und das Auftreten des Sättigungsgefühls hängen von vielen Faktoren ab, vom körperlichen Völlegefühl bis hin zu neuroendokrinen, psychisch-emotionalen, sozialen und sensorischen  Faktoren. Die Ansicht, dass bestimmte Lebensmittel, z. B. Zucker und Fette, süchtig machen, wird sehr kontrovers diskutiert. Es gibt nur wenige, kaum aussagekräftige Nachweise und keine Daten in Bezug auf den Menschen. Mit Ausnahme von Coffein gibt es auch keine Daten über Entzugserscheinungen beim Menschen, die durch Lebensmittel oder deren Inhaltsstoffe ausgelöst werden. Es gibt keine Nachweise, die die Behauptung von Davis bezüglich der Entzugserscheinungen beim Verzicht auf Weizen stützen.
Zudem widerspricht die Behauptung von Davis, nämlich, dass Weizen zu einem unkontrollierten Essverhalten führt, den verfügbaren Daten, die zeigen, dass nach der Aufnahme von Weizen Sättigungshormone freigesetzt werden. Proteine stimulieren die Freisetzung von Cholecystokinin und dem Glucagon-ähnlichen Peptid 1 (GLP-1), wobei die Proteine aus Weizen und Erbsen eher in der Lage sind, die Ausschüttung dieser beiden Hormone auszulösen als andere Proteine. Die Fähigkeit des Glutens, zwei Sättigungshormone zu stimulieren, stellt die Behauptung von Davis in Frage, dass Gluten zu unkontrolliertem Essen führt. Vielmehr legen einige Daten nahe, dass sich Proteine, wie die in Gluten enthaltenen, möglicherweise auf das Gewichtsmanagement günstig auswirken.“

Dass und wie Abnehmen mit Brot funktioniert, zeigt unter anderem die „Brotdiät

Quelle: Wheat belly – eine kritische  Betrachtung ausgewählter  Behauptungen und Leitthesen aus dem Buch, Autor Julie Jones, St. Paul (Minnesota), erschienen in Cereal Technology 04/2012. Ganzes Paper zum Download unter www.gmf-info.de/fachkritik-weizenwampe.pdf.

These: Weizen macht dumm

Diese These stammt aus einem weiteren pseudowissenschaftlichen Bestseller "Grain Brain", der in Deutschland unter dem Titel "Dumm wie Brot" auf den Markt kam. Neurologe Dr. David Perlmutter, erklärt darin, wie der glutenhaltige Weizen Gedächtnis und Denkleistung angreife und sogar weitere psychische Probleme wie Ängste und Depressionen auslösen soll.

Fakten:

Eine aktuelle Studie der Medical School in Harvard beschäftigt sich mit dieser These. Forscher haben an fast 14.000 amerikanischen Frauen untersucht, ob es einen Zusammenhang von Glutenaufnahme und kognitiver Leistungsfähigkeit gibt. Dazu wurden zwischen 1991 und 2015 die Ernährungsgewohnheiten erhoben. Die durchschnittliche Glutenaufnahme der Studienteilnehmerinnen lag bei 6,3 Gramm Gluten am Tag. Diese Menge entspricht etwa dem Verzehr von knapp 100 g bzw. 4 Scheiben Weizentoastbrot am Tag. Die Studie zeigte, dass es bei der kognitiven Leistungsfähigkeit keinen Unterschied gab, egal ob die Frauen viel oder wenig Gluten verzehrten. Ergo: Weizen macht nicht dumm.

Quellen zur Weizenkritik

Glutengehalte ausgewählter  Lebensmittel: https://www.kern.bayern.de/mam/cms03/themen/bilder/flyer_gluten.pdf

Studie zur kognitiven Leistungsfähigkeit: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2780271?resultClick=3

Weltweit wichtigsten Getreidearten:
http://www.fao.org/faostat/en/#data/QCL

Getreideinhaltsstoffe:
https://www.mein-mehl.de/ernaehrung/getreide-inhaltsstoffe/

Studie zu Glutengehalt in Weizen:
https://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/acs.jafc.0c02815
https://www.mdpi.com/2304-8158/8/9/409

Weizenkritik in der Kritik:
Wheat belly – eine kritische  Betrachtung ausgewählter  Behauptungen und Leitthesen aus dem Buch, Autor Julie Jones, St. Paul (Minnesota), erschienen in Cereal Technology 04/2012. Ganzes Paper zum Download unter www.gmf-online.de in Infothek Ernährungsforschung

https://www.praxisnah.de/index.cfm/article/10276.html