Die Frage, ob Mehl vegan ist, taucht immer wieder in den Medien auf, oft unter Überschriften wie: „10 Lebensmittel von denen Du denkst, sie seien vegan, es aber nicht sind“. Auch Blogger und Influencer haben das Thema für sich entdeckt und referieren dazu. Warum könnte Mehl aus Getreide nicht vegan sein? Und warum gibt es dann eigentlich bis heute kein auf der Verpackung als vegan gekennzeichnetes Mehl auf dem Markt? Wir gehen der Sache hier mal genau auf den Grund.
Mehl wird aus Getreide gemacht – damit ist es vegan.
Mehl ist ein pflanzliches Produkt, das aus Getreide hergestellt wird. Es enthält keine tierischen Bestandteile und ist daher vegan.
Auch die Idee, dass womöglich einige Mehlsorten in Anlagen verarbeitet werden, in denen auch tierische Produkte hergestellt werden und es so zu einer Kontamination kommen könnte, können wir verneinen. In den Getreidemühlen in Deutschland wird ausschließlich Getreide verarbeitet. Die Vermahlung findet in einem geschlossenen Kreislauf statt. Der Eintrag von Rückständen tierischer Lebensmittel ist bei Mehl ausgeschlossen.
Anders kann es natürlich aussehen, wenn Mehl weiterverarbeitet wird, etwa bei der Herstellung von Backmischungen. Werden in Unternehmen, die Backmischungen herstellen, auch Zutaten tierischen Ursprungs verarbeitet, etwa Milch oder Eier, kann es trotz guter fachlicher Praxis zu technisch unvermeidbaren Rückständen kommen. Solche möglichen unbeabsichtigten Einträge sind dann in der Regel mit Hinweisen wie „Kann XY enthalten“ gekennzeichnet.
Wie könnte Mehl dann nicht vegan sein?
Ursache dafür, dass Mehl möglicherweise nicht als vegan bezeichnet werden kann, ist die Aminosäure L-Cystein, kurz Cystein. Cystein ist natürlicher Bestandteil vieler tierischer und pflanzlicher Eiweiße. Besonders hohe Gehalte finden sich im Keratin, einer Gruppe wasserunlöslicher Faserproteine. Hohe Mengen an Kreatin wiederum finden sich in Geflügelfedern oder Tierhaaren, die in der Vergangenheit eine wichtige Ressource für die Cystein-Gewinnung waren. Der Einsatz von Cystein kann aus „veganem“ ein „nicht veganes“ Mehl machen, sofern die Ausgangssubstanz für dessen Herstellung tierischen Ursprungs war.
Wer bis hierhin aufmerksam gelesen hat, stellt fest, dass es nach dem früher auch ein heute geben muss: Cystein wird heute vorwiegend fermentativ mit Hilfe von Mikroorganismen hergestellt, für den deutschen Markt in erster Linie aus pflanzlichen Quellen. Für Lebensmittel, in denen Cystein eingesetzt wird, bedeute das: Wurde die Aminosäure auf pflanzlicher Basis gewonnen, bleibt das Lebensmittel vegan!
Übrigens: Da sich in manchem Artikel der Mythos von einer Cystein-Gewinnung aus Menschenhaaren tapfer hält, möchten wir an dieser Stelle ganz klar festhalten: Eine Gewinnung aus menschlichen Haaren wäre zwar theoretisch möglich, ist aber lebensmittelrechtlich nicht zugelassen!
Cystein – Als Nahrungsergänzung hui, in Lebensmitteln pfui?
Cystein gehört zu den proteinerzeugenden Aminosäuren und übernimmt im menschlichen Körper wichtige Funktionen. Es wird als „bedingt essentiell“, also bedingt unentbehrlich eingestuft. Erwachsene können es in der Leber synthetisieren. Zudem wird es über cysteinhaltige Lebensmittel aufgenommen. Neugeborene können die Aminosäure noch nicht selbst bilden, sie muss über die Muttermilch aufgenommen werden. Auch Menschen mit Lebererkrankungen können an einem gestörten beziehungsweise eingeschränkten Cystein-Stoffwechsel leiden. Sie müssen die Aminosäure supplementieren.
Cystein ist unter anderem ein wichtiger Baustein für die Bildung von Gluthation, das als körpereigenes Antioxidanz gilt und als solches zellschädigende freie Radikale bekämpft. Manch eine(r) nimmt freiwillig Cystein als Nahrungsergänzungsmittel zu sich, in der Hoffnung, so die Keratin- und Kollagenbildung zu unterstützen, für feste Fingernägel, schöne Haare, straffes Bindegewebe, starke Muskeln, feste Knorpel und vieles mehr.
Auch in Lebensmitteln ist Cystein als Zusatzstoff europaweit zugelassen, unter anderem als Mehlbehandlungsmittel mit der E-Nummer E 920. Dass der Einsatz von Cystein in der Lebensmittelherstellung als kritisch eingestuft oder gar skandalisiert wird, zeigt, wie in so mancher Debatte mit doppelten Standards gearbeitet wird.
Als Zusatzstoff hat Cystein verschiedene technologische Funktionen, so kann es zum Beispiel die Verarbeitungseigenschaften oder die Haltbarkeit verbessern. Unter anderem hilft es dabei, „Schwefelbrücken“ im Weizenkleber, dem Gluten abzubauen. So bekommt er seine typischen, elastischen Eigenschaften. Ein zu fester Kleber erschwert die weitere Verarbeitung etwa von Teigen für die Keksherstellung. Der Einsatz von L-Cystein sorgt also für gut knetbare Teige, hebt die Oberflächenspannung und verhindert das sogenannte „Schnurren“, also das Bestreben des Teiges sich wieder zusammenzuziehen und aufzuwölben, was eben bei der Herstellung von Keksen hinderlich ist – die sollen ja schön flach bleiben. Außerdem unterstützt Cystein die Bräunung der Kruste im Backprozess.
Was ist mit Cystein im Mehl und erkenne ich, ob es eingesetzt wird?
In aller Kürze – Erstens: Wenn Mehl Cystein enthält, muss dies ohne Wenn und Aber auf der Packung gekennzeichnet werden. Etwas anderes gilt für fertige Lebensmittel: Wenn L-Cystein im Produkt nicht mehr „technologisch wirksam“ ist, dann muss es nicht gekennzeichnet werden. Konkret heißt das: Im Mehl oder Teigling ist die Zugabe von L-Cystein zu kennzeichnen, in der fertigen Backware nicht.
Zweitens: Haushaltsmehle, wie sie in Kleinpackungen im Handel zu finden sind, enthalten grundsätzlich kein L-Cystein. Sie sind für einen breiten Anwendungsbereich im Haushalt konzipiert, sollen also sowohl für Kuchen, Pizza, Plätzchen oder Brot funktionieren.
Drittens: Cystein ist als „Mehlbehandlungsmittel“ zugelassen, kommt aber erst bei der Teigzubereitung zum Einsatz. Es wird also in der Regel erst im Backbetrieb zugesetzt.
Viertens: L-Cystein wird heutzutage für den deutschen Markt fast ausschließlich aus Pflanzen gewonnen.
Also: Auch wenn sich die Erzählung tapfer hält: Schweineborsten und Entenfedern sind für den deutschen Markt nur noch „Geschichte(n)“.
Auch wenn es keine Statistik zum Einsatz von L-Cystein gibt, bestätigen Branchenkenner, dass die Aminosäure auch im professionellen Backbereich nur selten zum Einsatz kommt. Und dann liegt die Einsatzmenge extrem niedrig, im Parts-per Million- oder ppm-Bereich!
Übrigens: Wer willkürlich Mehlpackungen in die Kamera hält – wie es neulich auf Instagram zu sehen war – und behauptet, sie seien nicht vegan oder sie enthielten (tierisches) L-Cystein, riskiert wegen falscher Tatsachenbehauptung rechtlich belangt zu werden.
Warum wird Mehl dann nicht als vegan gelabelt?
Mehl wird aus Getreide hergestellt. Es ist ein pflanzliches Lebensmittel und damit von Natur aus vegan. Mit diesem Hinweis kann Mehl auch beworben werden: „von Natur aus vegan“. Die Auslobung „vegan“ ist allerdings nicht erlaubt. Das Kennzeichnungsrecht verbietet eine „Werbung mit Selbstverständlichkeiten“. Wir kennen kein Mehl im Markt, das mit „vegan“ oder „von Natur aus vegan“ gekennzeichnet ist. Genau aus diesem Grund: Es ist selbstverständlich.
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